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Verbildlichte Zeit

Thermodynamische Aussagen über das Zeitverstreichen

Der Erfahrung nach geht Wärme vom heißen zum kalten Körper über. Das geschieht solange, bis beide Körper die gleiche Temperatur besitzen. Dieser Prozess ist unumkehrbar. Die Wärme wird nicht wieder von einem zum anderen Körper übergehen, um hinterher einen wärmeren und einen kälteren Körper zu hinterlassen. (vgl. Sprengel 209 f) Verallgemeinert handelt es sich hier um das Konzept der Entropie (vgl. Ruhnau 79). Die physikalische Größe »Entropie« gibt die Verlaufsrichtung eines Wärmeprozesses an. Die Differenz zweier Entropiewerte ergibt sich aus der reversibel übertragenen Wärme und der absoluten Temperatur. Reversible, also umkehrbare Prozesse (aus der Mechanik beispielsweise das Rückwärtsbetrachten eines Videofilms) scheinen jedoch nur Idealisierungen tatsächlich irreversibler Prozesse zu sein, da der vermeintlich reversible Prozess wiederum externer physikalischer Arbeit bedarf, um den Umkehrprozess einzuleiten. Durch die Unumkehrbarkeit von Prozessen stellt die Entropie damit eine Richtung dar, in die ein Prozess verläuft. Diese unumkehrbare stets in eine zeitliche Richtung verlaufende Entropie ist beschreibbar mit der Umwandlung von Ordnung in Unordnung (vgl. ebd. 79) Es gilt: »Ein abgeschlossenes System strebt einen Gleichgewichtszustand größtmöglicher Unordnung an.« (Heinrich 87) Mit Unordnung sei hier die stärkere Durchmischung von Molekülen gemeint. Ein hoher Entropiewert entspricht damit einer erhöhten Zunahme der Unordnung der Moleküle (Ballif/Dibble 328). Entropie ist also die »Tendenz zu immer wahrscheinlicheren Zuständen« (Flusser 75). Die Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise ein mit weißen und schwarzen Sandkörnern geschichtetes und anschließend durchschütteltes Glas wiederum eine saubere Schichtung der weißen und schwarzen Sandkörner beinhaltet, ist höchst unwahrscheinlich. (vgl. Ballif/Dibble 324 ff) Angenommen wird stattdessen eine stärkere Durchmischung der Sandkörner, also eine nach dem Prozess ungeordnetere Situation als vorher. Dagegen gibt es jedoch nur eine geringe Zahl an Möglichkeiten, geordneter Zustände. Innerhalb eines irreversiblen Prozesses geht ein System daher von einem unwahrscheinlicheren in einen wahrscheinlicheren Zustand über (ebd. 330).

Die statistische Thermodynamik bemüht sich um die Präzisierung dieses Problems. Die Wahrscheinlichkeit, dass nach einem Prozess ein geordneterer Zustand herrscht als vor dem Prozess, ist derart gering, dass man davon ausgehen kann, dass dieser Zustand niemals einträfe. Diese Gerichtetheit aller irreversiblen Prozesse wird daher auch als «thermodynamischer Zeitpfeil» (Ruhnau 79) bezeichnet, welcher eine ausgezeichnete Richtung der Zeit definiert. (vgl. ebd. 80) Von diesem Standpunkt ausgehend lässt sich das Universum als ein geschlossenes System ansehen und auf ihn das Konzept der Entropie anwenden. Verfolgt man diese Annahme, bewege sich das Universum auf den sogenannten Wärmetod zu, jenem Zustand, indem sich das ganze Universum im thermodynamischen Gleichgewicht befindet und keine physikalische Arbeit mehr geleistet werden kann. Ob das Konzept der Entropiezunahme jedoch auf das gesamte Universum als geschlossenes System angewendet werden kann, bleibt unbewiesen. (vgl. Ballif/Dibble 334 f)

Die Schwäche des thermodynamischen Zeitpfeils liegt in der Asymmetrie der Zeit. (vgl. Ruhnau 80) Das Entropiekonzept geht von irreversiblen Ereignissen aus, die jedoch nicht genügend bestimmt werden können. Darüber hinaus verkündet die Wahrscheinlichkeitsrechnung, dass eine vollständige Irreversibilität zwar unwahrscheinlich jedoch immerhin möglich ist.


Über das Licht
Die Größe Zeit ist ein wichtiger Betandteil in der Fotografie. Sie trägt wesentlich zum Gelingen eines Bildes bei, ist doch die Belichtungszeit neben der Blendenöffnung eine der Haupteinflussgrößen für die Erzeugung fotografischer Bilder. Ein Verbindungselement zwischen Fotografie und Zeit ist dabei die Naturkonstante der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum. Genau genommen erreicht das Erscheinungsbild, Farbigkeiten und Konturen eines Körpers, erst nach Zeitverzögerung den Empfänger, die Netzhaut oder das Negativ. Während die Gegenstände im Raum bereits zu jeder Zeit existent sind, breitet sich ihr Abbild aufgrund des Lichts erst nach Ablauf einer Dauer aus. Ob also auf der Netzhaut oder dem Inneren einer Kamera, das Bild tritt nicht gleichzeitig sondern chronologisch nach dem Geschehen in Erscheinung. Dies mag aufgrund der hohen Lichtgeschwindigkeit sehr geringe Auswirkungen haben und meist nicht wahrnehmbar sein, doch in größeren Abständen macht sich die Verzögerung bemerkbar: Das Bild, welches ein sternenklarer Nachthimmel auf der Kamerarückwand hinterlässt, zeigt eine Vielzahl zeitlicher Ebenen des Kosmos – Lichtstrahlen aus zahlreichen Vergangenheiten breiteten sich über Jahre hinweg aus, erreichen in einem dem Fotografen eigenständig anhaftenden Jetzt das Filmmaterial und verändern es zu einem fotografischen Bild.

Das Bild, das sich der Netzhaut darbietet, ist in jeder Gegenwart neu existent und dies, weil jedes der Bilder als Sinneseindruck an das Gehirn weitergegeben wird. Die immer aufs Neue verarbeiteten Bilder zeigen der Wahrnehmung die Sukzession der Zeit, sie überschreiben sich nicht in einem einzigen Gedanken sondern folgen einander in einer Erinnerungskette. Licht im Inneren einer Kamera erfährt dagegen keine sofortige »Weiterverarbeitung«. Das Licht reagiert und summiert sich, je länger der Prozess dauert. Dabei gibt es für jeden Belichtungsprozess eine Unter- sowie Obergrenze der Belichtungsdauer. Bewegt sich die Belichtung des Bildes innerhalb dieser Grenzen, entsteht ein so gesehen verschlüsseltes informatives Bild. Über- oder unterschreitet die Belichtungszeit jene Grenzen, entsteht zwar ein Bild, jedoch keines, das mit der gedanklichen Bildsuche des Fotografen übereinstimmt. Erst im Nachhinein kann jenes Fehlbild in einen Kontext gestellt werden, um eine Aussage zu treffen.

Fotografischer Zeitpfeil
Ein Zeitpfeil trifft eine Aussage über die zeitliche Gerichtetheit eines Ereignisses. Der fotografische Zeitpfeil ist dabei gekennzeichnet durch chemische Reaktionen im fotochemischen Prozess. Jede chemische Reaktion ist von den Parametern Temperatur, Druck, Zeit etc. abhängig. Während Temperatur und Druck regulierbar sind, tritt eine Reaktion jedoch »in der Zeit« auf. Es lässt sich ein zeitlicher Abschnitt definieren, in dem eine Reaktion vollzogen wird. Ist Druck, Temperatur, Lichtintensität etc. bekannt, lässt sich für ein bestimmtes fotografisches Ergebnis die Belichtungszeit bestimmen, in der die Reaktion ablaufen soll. Die Belichtungszeit kann dabei jedoch nicht intensiviert oder vermindert eingesetzt werden. Untersuchungen im Hinblick auf die Zeitdilatation durch Geschwindigkeit zeigten dagegen, dass chemische Reaktionen in bewegten Systemen schneller ablaufen. Jedoch lässt sich dieses Phänomen nicht zwingend mit einer ‹dichteren› Zeit erklären. Vielmehr wird eine schneller ablaufende Zeit erst mithilfe chemischer Reaktionen gemessen. [Es bleibt offenbar das alte Problem, Zeit nur mithilfe von Veränderung messen zu können. Gegen eine Messbarkeit der Zeit im Allgemeinen spricht beispielsweise, dass die Erde vor rund 200 Millionen Jahren pro ›Jahr‹ um 15 Tage schneller rotierte als heute, ein Erdjahr also 380 Tage dauerte. Vermutet wird darüber hinaus, dass sich in der Geschichte des Universums Naturkonstanten wie Lichtgeschwindigkeit oder die Ladung eines Elektrons verändert haben. (vgl. Lublinski 49 ff)] Der äußere lichtelektrische Effekt äußert sich in der Fotografie nun insofern als Zeitpfeil, dass die Anzahl der Reaktionen von Silberhalogenidionen und Lichtquanten zu Silberatomen die Richtung der Zeit angeben. Vergleichbar mit dem Entropiewert in der Thermodynamik reagieren umso mehr Silberhalogenidionen mit Lichtquanten, je weiter die Zeit fortschreitet. Eine Reversibilität dieses Prozesses gibt es nicht. Während alle anderen beteiligten (und unbeteiligten) Prozesse weiter ablaufen, Druck, Temperatur, Lichtintensität weiter vorhanden bleiben, wird der winzige Lichtweg zwischen Linse und Silberhalogenidionen am Ende des Belichtungsvorgangs gestoppt. Natürlich verstreicht auch hier die Zeit weiter, doch gibt es in diesem Zeitabschnitt keine Lichtbewegung mehr. Die Lichtwirkung ist letztlich an die Zeit gebunden, sowohl in der Fotografie als auch in der Physik, wobei es im physikalischen Zeitbegriff anmutet, als sei Zeit selbst vom Licht abhängig. Man denke an die Veränderung des Zeitverständnisses nach der Entdeckung der fixen Vakuum-Lichtgeschwindigkeit. Interessant ist hier der Ansatz, dass es für Lichtquanten kein Zeitverstreichen gibt. Dies kann der Vermutung Raum lassen, Licht sei Zeit und jene selbst könne sich nicht verstreichen lassen. Weder Licht noch Zeit besitzen Masse oder sind im Ruhezustand existent. In der näheren Umgebung von Massen erfahren sowohl Licht als auch Zeit Ablenkung.

Das Ergebnis der fotografischen Reaktion wird uns als Spur der lichten Wirklichkeit sichtbar und ähnelt dieser in gewissen Punkten. Der auf den Entropiewert begründete Zeitpfeil findet sich in der Fotografie also ebenso wie in jeder anderen Spur. Es lässt sich sagen, Entropie zeigt Zeit durch Spuren. Spuren sind irreversibel und eben diese Irreversibilität des Belichtungsprozesses gibt die Richtung des Zeitpfeils an.

Literatur

SPRENGEL, HERBERT WETZEL: Experimantalphysik für Ingenieure, Braunschweig/Wiesbaden 1996
RUHNAU, EVA: Zeit als Maß von Gegenwart. Von den acht Zeitbildern der Physik über eine kurze philosophische Geschichte des Jetzt zur Logistik und Zeitwahrnehmung des Gehirns. – Oder: Wie ist Gegenwart?, in: Weis, Kurt (Hg.): Was treibt die Zeit? Entwicklung und Herrschaft der Zeit in Wissenschaft, Technik und Religion, München 1998, S. 71-95
HEINRICH, FRITZ: Die Variable Zeit. Zur »Zeit« in Physik und Biologie, in: Paflik, Hannelore (Hg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, S. 85-88
BALIFF, JAE R., WILLIAM E. DIBBLE: Anschauliche Physik. Für Studierende der Ingeneurwissenschaften, Naturwissenschaften und Medizin sowie zum Selbststudium, Berlin, New York 1987 [engl. Conceptual Physics, New York 1969]
FLUSSER, VILÉM: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983
LUBLINSKI, JAN: Was ist Zeit? in: Geo Wissen, Die Zeit, Nr. 36, Hamburg 2005, Seite 40-52






Petra Wegener (*1979) lebt und arbeitet als freie Grafikdesignerin in Berlin. Sie beschäftigt sich mit dem fotografischen Bild als theoretisches Objekt.